Auf die Betroffenheit über die Flüchtlingskatastrophe muss eine neue Politik folgen. Ein Debattenbeitrag für einen dreifachen Richtungswechsel.
Von Balthasar Glättli und Kaspar Surber. Foto: Ursula Häne.
Wer durch Schweizer Strassen geht, sieht längst nicht mehr nur Werbung für die Swisscom, sondern auch für Yallo («Grenzenlos günstig») oder Lycamobile («Call the world for less»): Billigangebote für Gespräche nach Afrika, Asien oder Lateinamerika. Die Telecomfirmen verbreiten die vielleicht wichtigste Lektion für eine realistische Asyl- und Migrationspolitik: Die Trennung von «hier» und «dort», von Herkunfts- und Zielländern ist falsch.
Flucht und Migration spielen sich in einem gemeinsamen Raum ab, in einer Gegenwart des Nebeneinanders und der Gleichzeitigkeit. Darum sollte man auch nicht länger von «wir» und «sie» sprechen, von uns Helfenden und ihnen, den Opfern, von uns Besorgten und ihnen als Welle oder Masse. Der gemeinsame Horizont, an dem sich alle – im Bewusstsein der unterschiedlichen Privilegien – orientieren müssen, sind die Menschenrechte. Jeder Mensch ist an Rechten und an Würde gleich. Dies für alle, für wirklich alle, einzufordern, muss der Ausgangspunkt einer neuen Politik sein.
Der Sommer 2015 könnte in die Geschichte eingehen als Zeit, in der ein neues Bewusstsein für die Flüchtlingskatastrophe erwachte. Auf Betroffenheit und Hilfsbereitschaft müssen auch politische Veränderungen folgen.
Wir kennen die abschliessende Lösung nicht. Wir stellen hier bloss einige Überlegungen an zur Diskussion für einen dreifachen Richtungswechsel hin zu einer realistischen Politik. Mit «realistisch» meinen wir: von einer Wirklichkeit ausgehend, in der Flucht und Migration stattfinden und tendenziell zunehmen werden.
Regularisieren statt illegalisieren
Die Verträge von Schengen und Dublin, die die Überwachung der Grenzen und die Zuständigkeit für Asylverfahren regeln, aber auch die andauernden Verschärfungen der Asylgesetze in der Schweiz haben Flucht und Migration von ausserhalb Europas zunehmend illegalisiert. Angesichts der humanitären Katastrophe an den EU-Aussengrenzen, aber auch der Zustände in Schweizer Ausschaffungsgefängnissen, in denen Menschen allein wegen ihrer Anwesenheit ihrer Freiheit beraubt werden, heisst der erste Wendepunkt: Weg von der Illegalisierung, hin zu einer Regularisierung von Flucht und Migration.
Der wirksamste Schritt, den Tod im Mittelmeer zu stoppen, ist die Schaffung legaler Wege nach Europa. Dazu gehören die Möglichkeiten, auch via Botschaft oder im Internet ein Asylgesuch zu stellen, und sichere Reisewege. Denn Schlepperei ist nicht Ursache von Flucht und Migration, sondern Ausdruck ihrer Illegalisierung.
Wenn wir unscharf sowohl von Flucht wie von Migration sprechen, dann tun wir dies bewusst. Zwar ist es notwendig, den Begriff des «politischen Flüchtlings» zu verteidigen, weil er einer grossen Zahl von Menschen wirksamen Schutz bietet. Ebenso dringlich ist es aber auch, über neue Aufenthaltsmöglichkeiten nachzudenken: über vorübergehenden Schutz für Kriegsflüchtlinge wie jene aus Syrien, über befristete Wirtschaftsstages für junge Erwachsene, bestenfalls im Austausch zwischen Nord und Süd, hin zur Utopie einer globalen Bewegungsfreiheit.
Wer über Neues nachdenken will, muss sich auch der Vergangenheit stellen. Ein Neustart wird nur gelingen, wenn die weit über 100 000 Menschen, die in der Schweiz mit einem prekären rechtlichen Status leben, legalisiert werden. Sans-Papiers, Menschen in Nothilfe, vorläufig Aufgenommene: Alle, die vor einem bestimmten Stichtag eingereist sind, sollen eine B-Bewilligung für den längerfristigen Aufenthalt erhalten. Das bringt eine würdige Existenz für alle und schafft Platz in den überlasteten Asylunterkünften.
Selbstbestimmt statt bürokratisch
Die Datenbanken, die auf europäischer Ebene die Flüchtlinge erfassen, und die unablässig verschärften Gesetze in der Schweiz haben keine Asylindustrie, sondern eine Asylbürokratie herausgebildet. Nach zahlreichen missglückten Reorganisationen des Staatssekretariats für Migration und der Asylprozesse bedeutet die kürzlich vom Parlament beschlossene Asylgesetzrevision in erster Linie eine Verwaltungsreform. Ausgerechnet die SVP will nun die von ihr ständig geforderte «Verfahrensbeschleunigung» mit einem Refererendum bekämpfen. Sie ist offenkundig bloss an der Bewirtschaftung von Problemen interessiert. Der zweite Wendepunkt bedeutet, auf die Selbstbestimmung der Asylsuchenden statt auf ihre bürokratische Verwaltung zu setzen.
Dublin und Schengen seien gescheitert, verkünden die Auguren allerorten. Korrekt ist: Die Vertragswerke haben noch nie funktioniert. Ein Verteilschlüssel, wie ihn die EU-Kommission und Bundesrätin Simonetta Sommaruga fordern, ist ein richtiger Schritt – doch auch er würde die Bürokratie aufblähen. Eine realistische Politik lässt den Menschen die Wahl, in welchem Land sie ein Asylgesuch stellen wollen. Dann ziehen sie dorthin, wo sie bereits soziale Kontakte haben. Geld herumzuschieben statt Menschen, wäre ein pragmatischer Ansatz in der Schweiz wie innerhalb der Dublin-Staaten. Er würde die Ressourcen bereits bestehender migrantischer Communitys ernst nehmen, statt Flüchtlinge als anonyme «Lasten» zu verteilen.
Blickt man nicht nur vierteljährlich in die Migrationsstatistiken, stellt man über die Jahrzehnte fest: Es kommen längst nicht alle. Und von denen, die gekommen sind, bleiben auch nicht alle. Manche kehren nach Jahren wieder zurück, wie es auch die Schweizer AuswanderInnen tun. Das Prinzip der Selbstbestimmung sollte deshalb auch zur Anwendung kommen, wenn es um eine Rückkehr geht. Zwangsmittel, wie sie in der Zwangsausschaffung am gewalttätigsten zum Ausdruck kommen, sind abzulehnen.
Mehr Selbstbestimmung brauchen auch jene, die solidarisch handeln wollen: Die fast tausend Personen und Familien, die sich auf einen Aufruf der Schweizerischen Flüchtlingshilfe hin bereit erklärten, Flüchtlinge bei sich zu Hause aufzunehmen, sollten nicht Jahre warten müssen. Die von der Frankenkrise gebeutelten Hotels und Touristenorte sollten die Möglichkeit haben, zu Selbstkostenpreisen Flüchtlinge zu beherbergen. Klar bleibt die Unterbringung der Flüchtlinge eine Staatsaufgabe. Doch ist es falsch, Solidarität aus der Gesellschaft durch bürokratische Hürden zu erschweren oder – bei der Fluchthilfe oder der Hilfe für Sans-Papiers – gar zu kriminalisieren.
Interkultur statt Isolierung
Die Gesetzesverschärfungen haben nicht nur Illegalisierung und Bürokratisierung, sondern auch die Isolierung der Asylsuchenden gefördert. Diese leben in notdürftigen Unterkünften, betreut von privaten Sicherheitsfirmen, die aus der Not ein Geschäft machen. Diese Politik der Isolierung folgt der verwerflichen Überlegung, dass der Kontakt mit der Bevölkerung zu Mitgefühl, Freundschaften oder gar zu Hochzeiten führen könnte. Der dritte Wendepunkt liegt darin, die Isolierung zu beenden und mit Interkultur zu beginnen – mit dem barrierefreien Zugang zu Arbeit, Bildung und Kultur für alle, als Weg in eine gemeinsame Zukunft.
Die Isolierung der Asylsuchenden, ob auf Passhöhen oder in Grosszentren, muss aufgehoben werden, und offene Zentren sind wieder öffentlich oder von gemeinnützigen Hilfswerken zu führen statt von privaten Dienstleistern. Wo möglich, sind Asylsuchende in Wohnungen unterzubringen, um ihr Recht auf Familienleben und Privatsphäre zu gewährleisten.
Heute dürfen Asylsuchende erst nach drei bis sechs Monaten eine Arbeit suchen. Viele Kantone beschränken die Bewilligungen auf einzelne Branchen. Asylsuchende müssen eine Sondersteuer von zehn Prozent auf ihren Lohn entrichten. Arbeit bleibt aber in unserer Gesellschaft der wichtigste Identitätsfaktor. Eine vollständige Aufhebung des Arbeitsverbots brächte den Asylsuchenden eine würdige Existenz und ist volkswirtschaftlich sinnvoll.
Bei der Bildung sieht es besser aus, zumindest für Kinder und Jugendliche. Auch Sans-Papiers dürfen – dank erfolgreicher politischer Kämpfe – die Schule besuchen und eine Lehre absolvieren. Doch handelt es sich bei den meisten Asylsuchenden um junge Erwachsene. Sie bringen zu viel Wissen mit, als dass sie nur in der Landwirtschaft oder als TellerwäscherInnen beschäftigt werden könnten. Ihre Abschlüsse müssen von den Behörden einfacher anerkannt und kostenlose Sprachkurse, wie sie oft nur von Solidaritätsnetzen angeboten werden, mit öffentlichen Mitteln und Räumlichkeiten unterstützt werden.
Mitten in der Welt
Unsere Kritik an der Asylpolitik fokussierte in den letzten Jahren auf die europäische Abschreckung und die Schweizer Beteiligung daran. Dabei blieb sie selbst oft eurozentrisch. Die Herausforderung besteht darin, Flucht und Migration als globales Phänomen zu verstehen. So könnte sich die Schweiz als Sitz zahlreicher internationaler Organisationen für eine internationale Konferenz für die syrischen Flüchtlinge einsetzen, deren Lager in Jordanien und der Türkei die Uno nicht mehr finanzieren kann.
Europa ist keine einsame Insel. Europa grenzt an die Türkei und an den Maghreb. Eine realistische Flüchtlingspolitik anerkennt, dass für Dublin nur das Ende folgen kann oder ein grosser Sprung nach vorn: gemeinsame Asylstandards, grosszügige europäische Flüchtlingskontingente und massive Nothilfe vor Ort.
Wir wissen, die wenigsten der hier formulierten Vorschläge haben derzeit eine politische Mehrheit. Wir denken aber, dass die drei Forderungen «Regularisierung statt Illegalisierung», «Selbstbestimmung statt Bürokratie» und «Interkultur statt Isolierung» als Kompass für einen Kurswechsel dienen können.
Wir sind überzeugt, dass die linken Parteien zu Asyl und Migration auch in Zeiten des Wahlkampfs nicht schweigen dürfen. Dies gerade im Bewusstsein, dass eine andere Migrationspolitik nicht alle Probleme lösen kann. Flüchtlinge und MigrantInnen sind die BotengängerInnen globaler Ungleichheit und Ausbeutung. Diese gilt es zu bekämpfen, nicht die Migration und die Menschen, die unterwegs sind.
Erschienen in der WOZ vom 8.10.2015.
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